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Letzte Ruhe unter Bäumen

Trend zur Waldbestattung verändert Bestattungskultur – Beispiel Rieneck: Rund 100 Menschen sind bereits in einem sogenannten „Friedwald“ beigesetzt – „Verschiedene Welten innerhalb einer Familie“ – Alles eine Generationenfrage?

Würzburg/Rieneck (POW) Heidrun Heidrich sieht den Baum vor lauter Wald nicht. Die zierliche Frau mit den blonden Haaren bleibt stehen. Ihre Augen, die durch eine Brille mit dicken, schwarzen Bügeln blicken, suchen die Gegend ab. Noch hat die 55 Jahre alte Frau den Baum ihrer Tante nicht entdeckt. So viele Buchen und Eichen, deren dicke Stämme sich zum Himmel strecken. So viele Kiefern und Lärchen, die sich, von Wind und Wetter gebeutelt, schief zur Erde neigen. Heidrun Heidrich geht tiefer in den Wald hinein. Ihre schwarzen Stiefel stapfen durch die nasse, mit Laub bedeckte Erde. Ihr Atem bläst Rauchzeichen in die kalte Luft. Dann sieht sie das gelbe Band. Das Band ist um den Stamm einer etwa zehn Meter hohen Buche gebunden. Es ist der Baum, den Heidrun Heidrich gesucht hat: „Das ist er doch. Der mit der kleinen Bank daneben.“ Es ist der Baum, an dem sie die Asche ihrer Tante beigesetzt hat.

Heidrichs Tante ruht hier nicht alleine. Etwa 100 Urnen sind in diesem Wald beigesetzt. Er liegt im Naturpark Spessart, auf einer Anhöhe nahe des 2000-Einwohner-Städtchens Rieneck in Unterfranken. Der Wald ist ein Bestattungswald, in dem die Urnen von Verstorbenen am Fuße eines Baumes beigesetzt werden. Einer der führenden Anbieter dieser alternativen Bestattungsform ist in Deutschland seit 2001 die FriedWald GmbH. Bundesweit betreibt das Unternehmen mittlerweile 34 sogenannte Friedwälder, auch der Wald bei Rieneck gehört seit 2008 dazu.

Angehörige bringen Urne zur Grabstelle

Der Friedwald Rieneck erstreckt sich über eine Fläche von vier Hektar. Ein schmaler Schotterweg, der am Ortsrand von Rieneck steil ansteigt, führt zu einer kleinen Waldlichtung, direkt in das Herz des Friedwalds. Dort steht eine große dunkelbraune Holzhütte auf einem akkurat geschnittenen Rasen; davor ein kleiner Teich, rechts daneben ein Steinhaufen, aus dem ein Holzkreuz aufragt. Vor einer Beisetzung im Friedwald stellt der zuständige Förster die Urne des Verstorbenen meist auf diesen Steinhaufen. Die Angehörigen holen die Urne dann dort ab und bringen sie zur Grabstelle am Baum.

Auch bei der Beisetzung von Heidrichs Tante war das so. Die Erinnerung ist noch frisch. Heidrich steht vor dem Baumgrab ihrer Tante. Mitgebracht hat sie ihren Vater, Albert Betz, den Bruder der Verstorbenen. Betz ist ein freundlicher, drahtiger Mann, dem man seine 81 Jahre nicht ansieht. Er trägt Jeans und eine braune Kappe auf dem Kopf, unter seiner dunkelblauen Jacke lugt ein blütenweißes Hemd hervor. Vater und Tochter blicken beide etwas ungläubig auf die Erde vor dem Baum; dorthin, wo sie, etwa 70 Zentimeter unter der Oberfläche, die Urne ihrer Verwandten vermuten. So tief muss das Grab laut Vorschrift sein. Das Erdreich sieht völlig unberührt aus: keine Schaufelspuren, keine Anzeichen frischer Erde, mit der das Loch im Boden zugeschüttet wurde. Stattdessen viele bunte Blätter und ein paar kahle Heidelbeersträucher, die überall um den Baum herum knöchelhoch aus der Erde sprießen. „Das passt hier gut zu ihr, im Krieg sind wir als Kinder immer Heidelbeeren pflücken gegangen“, erzählt Betz.

Wie er selbst und seine Tochter Heidrun wohnte seine Schwester Erna in der Nähe von Rieneck. Sie hatte keine eigene Familie, lebte zurückgezogen und nahm trotz ihrer 83 Jahre keine Hilfe in Anspruch, um sich im Alltag zu versorgen. Heidrich hat sie dann vor kurzem in ihrem Haus gefunden – der Tod kam völlig unerwartet. In ihrem Testament wünschte sich Tante Erna eine Urnenbestattung. Sie wollte nicht auf dem Friedhof begraben werden, keine kirchliche Zeremonie und keine Traueranzeige. Ihre Nichte Heidrun sollte ihren letzten Wunsch umsetzen, weil sie bei einer städtischen Behörde arbeitet, sich mit organisatorischen Dingen auskennt.

„Das war für mich schon ein kleiner Schock“, sagt Betz. Er ist katholisch, sein Glaube ist ihm wichtig. Unzählige Male nahm er mit seiner vor Jahren verstorbenen Frau an der Marienwallfahrt nach Altötting teil. Später, nachdem seine Frau gestorben war, ist er mit seinen beiden Töchtern, Heidrun und Jutta, nach Lourdes, Rom und Santiago de Compostela gepilgert. „Ich wusste, dass meine Schwester nicht mehr viel vom Glauben hielt. Da waren wir sehr unterschiedlich“, erklärt Betz. Trotzdem kann er nicht verstehen, warum seine Schwester Erna nicht im Familiengrab auf dem Friedhof beerdigt werden wollte. „Hier im Wald, da läuft man doch über die Urnen drüber und merkt es nicht einmal“, sagt er.

Bedenken der Bischöfe

Auch die katholischen Bischöfe in Deutschland äußern immer wieder ihre Bedenken in Bezug auf Beisetzungen in den Friedwäldern. Die evangelische Kirche hat sich diesem Bestattungskonzept mit der Zeit eher angenähert und ist seit 2007 Träger des Friedwalds am Schwanberg im Landkreis Kitzingen. Die katholische Bischofskonferenz veröffentlichte im Jahr 2005 ihre jüngste Stellungnahme zu dem Thema. Darin heißt es über die Urnenbestattung im Friedwald: „Sofern diese Form aus Gründen gewählt wird, die der christlichen Glaubenslehre widersprechen, ist ein kirchliches Begräbnis nicht möglich.“ Die Pfarrer vor Ort müssten bei ihrer Entscheidung – ob sie die Beisetzung begleiten oder nicht – jeweils die Richtlinien ihres Bistums beachten.

Im Bistum Würzburg, wozu auch der Friedwald in Rieneck gehört, hat Bischof Dr. Friedhelm Hofmann 2007 eine solche Richtlinie erlassen. Demnach kann ein Baumgrab im Friedwald nur dann gesegnet werden, wenn dort ein Kreuz und der Name des Verstorbenen angebracht sind. Die seelsorgliche Begleitung und kirchliche Gestaltung der Urnenbeisetzung liege im Ermessen des Heimatpfarrers des Verstorbenen. Darüber hinaus äußert sich Bischof Hofmann kritisch zum Friedwald als Bestattungsort (siehe Interview): „Der Friedhof als Ort des kollektiven Gedächtnisses einer Gesellschaft ist von unschätzbarem Wert.“ Ein Friedwald, weitab der Dörfer und Städte, könne das nicht leisten. Der Bischof sieht mit dem Friedwald einen weiteren Schritt vollzogen, um den Tod aus der Gesellschaft zu verdrängen: „Ich glaube, es ist vor allem die Berührung mit dem Tod, die vermieden werden soll.“ Gleichzeitig äußert Bischof Hofmann Verständnis für die Menschen, die eine Baumbestattung wählen, um beispielsweise ihren Angehörigen die Grabpflege zu ersparen. Diese würden auf ihren Wunsch hin „selbstverständlich katholisch beerdigt“.

Der langjährige Pfarrer von Rieneck, Rudolf Scherbaum, lehnte es von Beginn an ab, selbst Beisetzungen im Friedwald zu gestalten. Bereits 2007 schrieb er an die Rienecker Stadträte: „Die Errichtung eines Friedwalds hat rein finanzielle und kommerzielle Gründe.“ Ethische Gedanken würden dem untergeordnet. Er halte es für unverzichtbar, dass die Gräber für die Menschen weiter sichtbar sind, „um das Bewusstsein der eigenen Sterblichkeit wach zu halten“, betonte Scherbaum in dem offenen Brief. Dem „modernen Zeitgeist des Vergessens“ könnten so nur die Grabstätten auf den Friedhöfen, nicht aber ein Friedwald, etwas entgegensetzen. Zudem seien die kleinen Kreuze auf den Namensplaketten der Baumgräber kaum als solche zu erkennen.

Zehn Grabplätze am Gemeinschaftsbaum

An der Buche vor dem Urnengrab von Heidrichs Tante ist so ein braunes Namensschildchen angebracht. Es ist rund und hat einen Durchmesser von gut zehn Zentimetern. Ein Kreuz ist darauf nicht abgebildet. Nur eine Nummerierung: Rieneck 6. „Der Name von Tante Erna kommt bald hinzu“, versichert Heidrich. Zwei Männernamen und deren Lebensdaten stehen jetzt schon darauf. Der eine ist mit 72 Jahren verstorben, der andere wurde nur 58. Der Baum, an dem sie alle begraben sind, ist ein sogenannter Gemeinschaftsbaum. Die zehn Grabplätze, die an diesem Baum zur Verfügung stehen, können einzeln von unterschiedlichen Personen für 99 Jahre erworben werden. Das gelbe Band am Baum, das Heidrich den Weg gewiesen hat, signalisiert, dass hier noch einige Urnengräber frei sind. Sie habe diesen Baum ausgesucht, weil von hier aus der Blick so schön nach Osten ins Tal gehe, erzählt Heidrich. „Und weil deshalb jeden Morgen hier über der Tante die Sonne aufgeht.“ 790 Euro habe sie dafür gezahlt.

Neben den Gemeinschaftsbäumen gibt es in den Friedwäldern auch sogenannte Familien- und Freundschaftsbäume, bei denen gleich alle zehn Urnengräber von einer Person oder Familie gekauft werden. Die Preise hierbei reichen von 2700 bis 6350 Euro, je nachdem wie dick der Stamm des Baumes ist. Zum Vergleich: Ein Familiengrab mit Grabstellen für vier Personen kostet auf dem städtischen Friedhof in Rieneck 1100 Euro bei einer Ruhezeit von 20 Jahren. Nach Angaben einer Sprecherin hat die FriedWald GmbH im Jahr 2009 zehn Millionen Euro Umsatz erwirtschaftet. Über Gewinn oder Verlust gibt das Unternehmen keine Auskunft.

Träger des Friedwalds in Rieneck ist die Stadt Rieneck selbst. Die Stadt hat mit der FriedWald GmbH einen Dienstleistungsvertrag geschlossen, wonach dem Unternehmen Verwaltung, Marketing und Öffentlichkeitsarbeit für den Friedwald obliegen. Zu den finanziellen Rahmenbedingungen des Vertrags schweigen sich beide Seiten aus. Im Haushaltsplan für das Jahr 2010 kalkuliert die Stadt Rieneck mit Einnahmen in Höhe von 70.000 Euro für den Friedwald. Beim städtischen Friedhof rechnet man nur mit Einnahmen in Höhe von 13.000 Euro. Dem gegenüber stehen Ausgaben für beide Friedhöfe von insgesamt rund 45.500 Euro. Zieht man die Zahlen aus dem Jahr 2009 zum Vergleich heran, so fällt auf, dass die Einnahmen der Stadt aus dem Friedwald deutlich ansteigen, während die Einnahmen aus dem städtischen Friedhof zurückgehen. Das Rienecker Ordnungsamt bestätigt den Eindruck der Zahlen: Immer mehr Menschen würden den Friedwald als Bestattungsort dem Friedhof vorziehen.

Auch für Heidrun Heidrich ist der Friedwald „die Zukunft“. Sie will sich ebenso wie ihre Tante dort beisetzen lassen. „Ich finde die Vorstellung angenehm, in der Natur zu ruhen“, erklärt Heidrich. An die Auferstehung mag sie nicht glauben. „Ich bin nicht so christlich. Der Papa betet immer für mich mit“, sagt Heidrich mit einem Lachen. Ihr Vater sieht das alles anders. „Wenn ich auf dem Friedhof am Grab meiner Frau stehe, dann ist das für mich schon ergreifender. Da bin ich bei ihr“, sagt Betz. Sein Glaube habe ihm auch über den Tod seiner Frau hinweg geholfen. Der Glaube würde den Menschen doch dabei helfen, vieles zu überwinden. „Allerheiligen auf dem Friedhof, das ist so eine schöne Feier, das möchte ich nicht missen“, betont Betz. „Ja, Papa, das ist deine Generation, meine Generation hat mit der Kirche nicht mehr so viel zu tun“, sagt Heidrich.

Großteil wünscht christliche Begleitung

Die Art der Beisetzung – alles eine Generationenfrage? Laut Volkskundlerin Dr. Dagmar Hänel trifft dies nur zum Teil zu (siehe Interview). Zwar nähme die Zahl der Beisetzungen ohne kirchliche Begleitung bereits seit den 1980er Jahren zu. Forschungen zum Thema Friedwald hätten aber auch gezeigt, dass sich der größte Teil der Menschen, die sich dort ein Urnengrab sichern, eine christliche Begleitung wünscht. „Ich sehe eher die Tendenz, eine vorgegebene Liturgie der Kirchen kreativ und individuell an die eigenen Bedürfnisse anzupassen“, sagt Hänel. Die Bischofskonferenz nehme diese Herausforderung durchaus wahr, erklärt Dr. Hans-Gerd Angel, Referent für Bestattungskultur bei der Bischofskonferenz. „Da die Begräbnisfeier selbst kein Sakrament, sondern lediglich eine Sakramentalie ist“, beauftragten die Diözesen mehr und mehr Laien mit der Feier der Bestattung.

Heidrich hat gute Erinnerungen an die Beisetzung ihrer Tante im Friedwald. Rund 25 Verwandte waren mit dabei. Heidrichs Schwester Jutta hielt die Trauerrede, es wurden Lieder gesungen, Betz sprach ein Vater-Unser. Zum Schluss streuten die Trauernden rote Rosenblüten auf das Urnengrab.

Heidrich kniet vor dem Baumgrab und greift nach einem verwelkten Blütenblatt, das immer noch dort liegt. Sie betrachtet es für einen Moment und lässt es wieder zur Erde segeln. Sie steht auf, legt die Hände ineinander und verharrt kurz wie vor einem Grab auf dem Friedhof. Andächtige Stimmung kommt bei ihrem Vater weniger auf, wenn er, den Oberkörper leicht nach vorne gebeugt, durch den Friedwald marschiert: „Ich fühle mich hier eher wie ein Wanderer“, sagt Betz schmunzelnd, als er mit seiner Tochter zum Auto läuft. Heidrich widerspricht mit liebevollem Trotz in der Stimme: „Ich finde es hier einfach natürlicher als auf dem Friedhof.“ Der Vater lacht und öffnet die Beifahrertür: „Das sind halt die verschiedenen Welten innerhalb einer Familie.“

(1411/0403; E-Mail voraus)

Hinweis für Redaktionen: Fotos abrufbar im Internet

Interview mit Bischof Dr. Friedhelm Hofmann: www.bistum-wuerzburg.de/bwo/dcms/sites/bistum/information/medien/pressestelle/nachrichten/index.html

Interview mit Volkskundlerin Dr. Dagmar Hänel: www.bistum-wuerzburg.de/bwo/dcms/sites/bistum/information/medien/pressestelle/nachrichten/index.html