Evangelium
In jener Zeit betete Jesus für sich allein und die Jünger waren bei ihm. Da fragte er sie: Für wen halten mich die Leute? Sie antworteten: Einige für Johannes den Täufer, andere für Elíja; wieder andere sagen: Einer der alten Propheten ist auferstanden.
Da sagte er zu ihnen: Ihr aber, für wen haltet ihr mich? Petrus antwortete: Für den Christus Gottes. Doch er befahl ihnen und wies sie an, es niemandem zu sagen.
Und er sagte: Der Menschensohn muss vieles erleiden und von den Ältesten, den Hohepriestern und den Schriftgelehrten verworfen werden; er muss getötet und am dritten Tage auferweckt werden.
Zu allen sagte er: Wenn einer hinter mir hergehen will, verleugne er sich selbst, nehme täglich sein Kreuz auf sich und folge mir nach. Denn wer sein Leben retten will, wird es verlieren; wer aber sein Leben um meinetwillen verliert, der wird es retten.
Lukasevangelium 9,18–24
Was an diesem Sonntag in den Gottesdiensten gelesen wird, kommt für Michael Ebertz einer Revolution gleich. „Ihr alle seid durch den Glauben Söhne Gottes in Christus Jesus“, heißt es da in dem Brief an die Galater. „Es gibt nicht mehr Juden und Griechen, nicht Sklaven und Freie, nicht männlich und weiblich, denn ihr alle seid einer in Christus Jesus“, schreibt der Apostel Paulus weiter. Der Freiburger Religionssoziologe Ebertz sagt: „Diese Position ist dramatisch. Das kann ich gar nicht anders ausdrücken – und das sollten sich Christinnen und Christen immer wieder vor Augen führen.“
Ihm ist es wichtig, den Galaterbrief so zu lesen, dass der geschichtliche und kulturelle Hintergrund der Menschen damals deutlich wird. Nur dann könne man Paulus’ umstürzende Worte wirklich verstehen. Die Galater waren vermutlich eine Gruppe von Gemeinden auf dem Gebiet der heutigen Türkei. Exegeten gehen davon aus, dass der Brief an diese Gemeinden in der Mitte des ersten Jahrhunderts nach Christus geschrieben wurde. Wie in der Apostelgeschichte sind auch im Galaterbrief zwei Gruppen gemeint: jene Apostel und frühen Christen, die darauf beharrten, dass ein Christ zunächst Jude werden müsse – und jene, die einen direkten Zugang zum Christentum forderten. Dazu gehörte Paulus.
„Wir fühlten uns nicht willkommen geheißen“
„Es geht in diesem Brief um Mitgliedschaftsregeln“, sagt Ebertz. Wer gehört dazu? Was muss erfüllt sein, damit jemand Christ ist? „Die Taufe war gesetzt. Aber was sonst noch? Müssen die Männer sich beschneiden lassen? Müssen sich alle an die jüdischen Speisegesetze halten oder an den jüdischen Festkalender?“, sagt er.
Paulus etabliert im Brief an die Galater eine neue Regel. „Die alten Unterscheidungen von Jude und Nicht-Jude sollten die frühen Christen hinter sich lassen“, sagt Ebertz. Es zählte nicht die Herkunft, die Religion, der soziale Status oder das Geschlecht. „All das ist nicht länger ausschlaggebend. Die neue Mitgliedschaftsregel setzt allein auf den neuen Glauben. Das ist der entscheidende Punkt.“
Hat Paulus sich mit seiner Regel durchgesetzt? „Ja, wenn wir uns die Geschichte des Christentums anschauen“, sagt der Religionssoziologe. Es haben sich immer mehr christliche Gemeinden gebildet, die sich zunehmend weniger am Judentum orientierten. „Und kein Christ wird heute daran gemessen, ob er den jüdischen Festkalender kennt oder sich koscher ernährt.“ Aber: „Aus meiner Sicht hat Paulus sich nicht mit seinem alternativlosen Bezug auf den Glauben an Jesus Christus durchgesetzt.“
Also zählt nicht allein der Glaube? Sind wir in unseren Pfarreien nicht alle eins, und jeder, der glaubt, ist dort willkommen? Nein, sagt Ebertz. Er selbst hat es erlebt, als er vor Jahren mit seiner Frau an den Bodensee zog und dort Anschluss in einer Gemeinde suchte. „Da wurden Leute für die Jugendarbeit gesucht. Wir waren Anfang 20 und hatten Erfahrung aus unserer Heimatgemeinde“, sagt Ebertz. Doch die Menschen in der Gemeinde reagierten verhalten. „Sie haben uns nicht weggeschickt, aber wir fühlten uns auch nicht willkommen geheißen“, sagt Ebertz. „Die stillschweigende Regel dort war: Hier darf nur mitmachen, wer in Konstanz geboren ist.“ Erst als sich herausstellte, dass das Ehepaar und der Ortspfarrer einen gemeinsamen Bekannten hatten, durften sie ehrenamtlich tätig werden.
„Sie wissen, dass das nicht ganz so ernst genommen wird“
„Um diese Gemeinde gab es zwei Barrieren“, sagt Ebertz. „Die Herkunftsbarriere: Seid ihr hier am Ort aufgewachsen oder nicht? Und die Vertrauensbarriere: Was seid ihr für Typen und können wir euch trauen?“ Nach Paulus’ Idee hätte das keine Rolle spielen dürfen. „Unser Glaube, unsere Kirchenzugehörigkeit und unser Engagement hätten reichen müssen. Aber das war nicht gefragt“, sagt Ebertz.
Auch in seiner aktuellen Kirchengemeinde spürt er immer wieder enge Grenzen. „Ein bestimmter katholischer Verein ist dort sehr stark. Das sind alles Menschen, die sich großartig einbringen – aber eben vor allem mit praktischen Dingen“, sagt Ebertz. „Wenn jemand wie ich eher aus einem intellektuell orientierten Milieu kommt und vor allem auf Praktiker trifft, dann wird man leicht zum Außenseiter.“
Was Paulus mit seinem Bezug auf den Glauben gesetzt hat, sei heute oft nur noch ein Ritual, sagt Ebertz. Eltern, selbst wenn sie kirchenfern seien, könnten etwa bei der Taufe ihres Kindes die Frage nach der christlichen Erziehung leicht mit Ja beantworten. „Sie wissen, dass das gefragt wird. Sie wissen aber auch, dass das nicht kontrolliert und nicht ganz so ernst genommen wird“, sagt Ebertz.
Also hat Paulus’ Idee sich doch nicht durchsetzen können? So ganz will Ebertz die Hoffnung nicht aufgeben. Er glaubt, es wäre an der Zeit, die aktiven Gemeindemitglieder auf die Barrieren, die sie aufgebaut haben, aufmerksam zu machen. Aber er sagt auch: „Ich befürchte, das würde zu Ärger und Widerstand führen. Wer will schon zugeben, dass seine Gemeinde sich auf bestimmte Milieus verengt hat? Das ist ja auch eine Beschämung, anzudeuten, dass die Aktiven gar nicht so christlich und offen sind, wie sie sich geben.“
Kerstin Ostendorf
Zur Person
Michael Ebertz war Professor an der Katholischen Hochschule Freiburg. Er ist Autor zahlreicher Arbeiten zur Pastoralsoziologie und Religionssoziologie.